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Der Denkprozess:
Wo fängt er an, und wo endet er?
Erasmus-Dialoge
Als Erasmus mit intaktem Körper, komplettem Gedächtnis und unveränderter Persönlichkeit zur Militärparade erschien, reagierte Omnius mit gehöriger Überraschung. Als wäre nichts geschehen, fand sich der unabhängige Roboter ein, um die Reihen neuer Kampfmaschinen und Geschwader kürzlich fertig gestellter Kriegsschiffe in Augenschein zu nehmen.
In vorsätzlicher Nachahmung menschlicher Paraden hatte Omnius die Elite-Roboter zur Abnahme auf eine Aussichtstribüne beordert, und jetzt marschierten, rollten und flogen mechanische Streitkräfte durch ihr Blickfeld. Alles geschah zur Vorbereitung auf den großen Endsieg über die Hrethgir. Die Parade wand sich durch die Straßen – die breiten Boulevards rund um den Zentralkomplex – und durchquerte den Luftraum von Corrin City. Die Zurschaustellung überlegener Waffensysteme wirkte extravagant, eindrucksvoll und – überflüssig.
Erasmus nahm seinen Platz in der ersten Reihe der Tribüne ein und sah sich das Ganze an. Sollten die tausende menschlicher Sklaven etwa jubeln? Er selbst wäre lieber mit Gilbertus zusammen gewesen. Sogar der Serena-Butler-Klon war interessanter als dieses – Spektakel.
»Wieso bist du anwesend?«, fragte Omnius. »Wie ist es möglich, dass du noch existierst?«
»Muss ich aus diesen Fragen schlussfolgern, dass du die dauernde Überwachung meiner Villa durch Wächteraugen eingestellt hast? Andernfalls müsste dir bekannt sein, was sich ereignet hat.«
Ein Pulk Wächteraugen umschwirrte das Flussmetall-Gesicht des Roboters wie ein Schwarm wütender Hornissen. »Du hast meine Fragen nicht beantwortet.«
»Du hast mich damit beauftragt, den Wahnsinn der menschlichen Religionen zu untersuchen. Es hat den Anschein, dass ich von den Toten auferstanden bin. Vielleicht bin ich ein Märtyrer.«
»Ein Märtyrer? Wer würde den Verlust eines autonomen Roboters beklagen?«
»In dieser Hinsicht könntest du überrascht werden.«
Gilbertus war außerordentlich zufrieden mit seiner Lösung des Dilemmas gewesen. Erasmus hatte sich gefreut, als sein Bewusstsein wieder erwachte und er den muskulösen Mann inmitten der Blumen und üppigen Grünpflanzen des Treibhauses vor sich stehen sah.
»Was hat Omnius getan?«, fragte Erasmus, als er sich zu voller Körpergröße aufrichtete und das breite Grinsen auf Gilbertus' Gesicht betrachtete. »Und was hast du getan, mein Mentat?«
»Omnius hat deinen Kernspeicherinhalt kopiert und danach vernichtet, genau wie du es vorausgesehen hast.«
In der Nähe hatte der Serena-Klon eine hellrote Lilie gepflückt, sie zum Gesicht geführt und daran geschnuppert. Sie hatte Erasmus und Gilbertus nicht beachtet.
»Wieso ist meine Existenz dann nicht beendet?«
»Weil ich Initiative gezeigt habe, Vater.« Gilbertus hatte sich nicht mehr zurückhalten können, sondern war zum Roboter gelaufen und hatte ihn umarmt. »Weisungsgemäß habe ich deinen Kernspeicher an Omnius übergeben. Doch die Instruktionen hatten mir nicht verboten, vorher eine Kopie anzufertigen.«
»Eine ausgezeichnete Schlussfolgerung, Gilbertus.«
»Also ist deine Wiederauferstehung ein Trick und kein religiöses Ereignis. Das disqualifiziert dich als Märtyrer.« Unablässig umkreisten die Wächteraugen Erasmus' Kopf. Die Militärparade der Maschinen war unterbrochen worden, alles stand still. »Jetzt habe ich deine Besorgnis erregende Persönlichkeit und dein Gedächtnis isoliert in mir gespeichert, und gleichzeitig existierst du außerhalb von mir. Offenbar habe ich mein Ziel nicht erreicht.«
Der Roboter bildete ein Lächeln aus, obwohl die Bekundung von Emotionen bei Omnius wenig Zweck hatte. Aber da sich Erasmus' Identität auch innerhalb von Omnius befand, wusste möglicherweise wenigstens ein Teil des Allgeistes das Lächeln zu würdigen. »Wir wollen hoffen, dass dein Feldzug gegen die Liga-Welten bessere Resultate erbringt.«
»Nachdem ich intern deine Obsession mit menschlichen Kunstformen begutachtet habe, erkenne ich an, dass deine Arbeit einen gewissen Nutzen haben könnte. Daher toleriere ich bis auf weiteres die Fortsetzung deiner Existenz.«
»Es freut mich, dass ich ... am Leben bleiben darf, Omnius.«
Aus den winzigen Lautsprechern der Wächteraugen hörte Erasmus einen Laut, den Omnius noch nie von sich gegeben hatte, beinahe ein Schnauben der Geringschätzung. »Märtyrer ...!«
Fasziniert stellte der autonome Roboter fest, dass Omnius nun den Eindruck erweckte, von seiner großartigen neuen, von sämtlichen Synchronisierten Welten zusammengezogenen Vernichtungsarmee begeistert zu sein. Woher hatte er die Idee zu diesem militärischen Spektakel? Anscheinend hatte er sie von der Djihad-Armee abgeschaut und betrachtete sie als erforderlichen Bestandteil der Vorbereitungen auf den Endsieg.
Erasmus schnippte ein Staubkörnchen von seinem polierten Platinkörper. Auf seinem Flussmetall-Gesicht schimmerte Corrins rötlicher Sonnenschein. Erneut überlegte er, ob es einen schwer zu definierenden Fehler in der Programmierung des primären Allgeistes geben könnte, etwas, das sich durch eine direkte Inspektion des Gelsphären-Kernspeichers nicht feststellen ließ. Gelegentlich unterliefen Omnius unbestreitbare Irrtümer, sein Handeln erschien sonderbar oder sogar wahnhaft. Und jetzt, da seine Programmierung eine völlig separate Persönlichkeit enthielt, musste Omnius vielleicht als noch gefährlicher denn je eingestuft werden.
Omnius' Stimme erscholl aus unsichtbaren Lautsprechern ringsherum und in der ganzen Stadt. »Die Menschheit ist geschwächt und im Niedergang begriffen, unsere Biowaffen-Epidemie hat Milliarden getötet. Die Überlebenden werden durch die Bemühungen beansprucht und abgelenkt, von den Überresten ihrer Zivilisation den völligen Zerfall abzuwenden. Nach den Erkenntnissen meiner Späherraumschiffe ist die Menschheit zahlenmäßig stark reduziert und ihre Regierung gegenwärtig ineffektiv. Chaos hat die Djihad-Armee erfasst. Nun gedenke ich die Vernichtung der Menschheit zu vollenden. Der Feind kann gegen mich keine Angriffe mehr unternehmen. Deshalb habe ich zur Vorbereitung der letzten Offensive von allen Synchronisierten Welten das Gros meiner Roboterkriegsschiffe zusammengezogen. Alle Industrieanlagen sind auf den Ausstoß verbesserter Waffen, von Kampfrobotern und Schlachtschiffen umgestellt worden. Die Offensiv-Streitmacht befindet sich mittlerweile nahezu vollständig im Orbit um Corrin. Mit diesen Streitkräften werde ich die menschliche Regierung vernichtend schlagen und Salusa Secundus in einen toten Schlackeklumpen verwandeln.«
Genau wie es die Liga-Armada vor langer Zeit mit der Erde gemacht hat, dachte Erasmus. Wie üblich hatte Omnius keine originellen Einfälle.
»Wenn die Liga anschließend desorganisiert und wehrlos ist, kann ich leicht für Ordnung sorgen. Es wird mir möglich sein, die Lebensform, die einem geordneten Universum so viel Schaden zugefügt hat, endlich ganz auszurotten.«
Diese Zielsetzung beunruhigte Erasmus. Omnius sah nur, dass die Menschen für ihn und sein Reich eine Bedrohung darstellten; daraus zog er den Schluss, dass er sie massakrieren musste. Ohne Ausnahme. Aber die Menschheit hatte einen sehr interessanten Genpool, der den Einzelnen innerhalb der vergleichsweise kurzen Lebensspanne zu einem breiten Spektrum von emotionalen und intellektuellen Leistungen befähigte.
Erasmus hoffte, dass nicht alle vernichtet wurden.
Er hob den Blick zum Himmel. In einer Abfolge sorgfältig choreografierter Manöver nahmen Militärflugkörper den »Kampf« gegen ein als »feindlich« definiertes Geschwader auf, und kurz darauf hatte das Demonstrationsgeschwader den vorprogrammierten »Sieg« über den Ersatzgegner errungen. Durch konzentrierten Beschuss terminierte es den »Feind«, und brennende Trümmer hagelten herab.
Was für eine alberne Darbietung, dachte Erasmus.
Hoch oben im Orbit wurde die gigantische Flotte mit Treibstoff und Munition versorgt, bis sie so weit war, zum Monate dauernden Flug nach Salusa Secundus starten zu können, um den Planeten zu zerstören.